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Mulhouse

Colmar

15/05/2020
OperLiederabendTanz

Spielplan 2020/2021

Musikalische Spielarten des Begehrens


Alain Perroux

Ist Liebe immer asymmetrisch? Um diese Frage geht es in den Werken, die 2020/2021 auf dem Spielplan der Opéra national du Rhin stehen. Sei es Dalilas verräterische Liebe für Samson, Alcinas verzauberte Liebe für Ruggiero, Antigones aufopfernde Liebe für Haimon, Pinkertons falsche Liebe für Madama Butterfly, Peer Gynts fliehende Liebe für Solveig, bei all diesen verschiedenen Paaren führt das Ungleichgewicht zur Tragödie. Wenn in Der Tod in Venedig die platonische Liebe eines alternden Künstlers auf die abwesende Gleichgültigkeit eines unbekannten Jünglings trifft, erreicht die Asymmetrie extreme Höhen.
Dieses Schwindelgefühls bedient sich die Oper, um Dramatik aufzubauen und mit der Musik dem Unsagbaren Ausdruck zu verleihen. Ein brennendes Verlangen, das an einer Mauer aus Gleichgültigkeit zerschellt; Illusionen, die wie das Schloss einer Zauberin in sich zusammenfallen; Warten, das poetische Formen annimmt, sei es bei Butterfly oder Solveig, die auf die Rückkehr des Frühlings wartet, der auch die des Geliebten ankündigen soll.


Wenn auch die Erwartungen der Opernfiguren oft enttäuscht werden, soll es Ihnen nicht so ergehen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer der OnR. Für 2020/2021 hatte Eva Kleinitz eine vierte Spielzeit geplant, die ihrer eigenen Persönlichkeit ebenbürtig war: großzügig, kontrastreich, schön. Im Mai 2019 ist Eva von uns gegangen und konnte dieses vierte Kapitel ihrer intensiven und doch viel zu kurzen Geschichte im Elsass nicht vollenden. Als Intendant ad interim stellte ihr Stellvertreter Bertrand Rossi den Spielplan fertig. Ihm gilt mein herzlicher Dank, dass er in den schwierigen Monaten nach Evas Verscheiden die Steuerung der Opéra national du Rhin mit solcher Tatkraft übernommen hat.

Ich möchte an dieser Stelle auch die Verdienste der Mitarbeiter·innen der OnR würdigen. Künstler·innen, technische Teams und Verwaltung – während der Monate voller Trauer und Unsicherheit haben sie alle unerschütterlich und mit großer Hingabe weitergearbeitet. Und auch in den beschwerlichen Wochen, die wir im Frühjahr 2020 gemeinsam durchmachen mussten, als weltweit eine noch nie dagewesene sanitäre Krise ausbrach – von der die darstellenden Künste in besonderem Maße betroffen sind –, haben sie alle höchst engagiert den Kurs gehalten.

Diesen schwierigen Zeiten muss ich noch einige Worte mehr widmen, denn auch die kommenden Monate und Jahre werden Spuren davon tragen. Seit Mitte März 2020 mussten wir alle Veranstaltungen absagen, um die Sicherheit der Mitarbeiter·innen der OnR, der Gastkünstler·innen und des Publikums zu gewährleisten. Zum Zeitpunkt, zu dem ich diese Zeilen schreibe, sind wir guter Hoffnung, unsere Tätigkeit zu Beginn der Spielzeit 2020/2021 wieder aufnehmen zu können. Aus diesem Grund finden Sie im vorliegenden Programmheft den Spielplan vor, wie er seit Monaten geplant wurde. Doch mit dem vorzeitigen Ende der Spielzeit 2019/2020 wollen wir es keineswegs bewenden lassen. Während der Ausgangssperre haben wir weiter an der Gestaltung der kommenden Spielzeiten gearbeitet und konnten eine Großzahl der abgesagten Stücke darin wieder aufnehmen. Sobald die Sicherheitsbedingungen gewährleistet sind, wird unser Bestreben wie immer lauten: The show must go on!

Und so bin ich heute in Gedanken bei allen Mitarbeiter·innen der OnR und bei Eva, jetzt wo ich die Leitung übernehme und zum ersten Mal das Editorial für ein Spielzeitheft verfasse.

Die Opern des Spielplans habe ich schon erwähnt. Doch die reizvollste unter ihnen habe ich dabei ausgelassen: Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck, ein beständiges Werk, das bei unseren deutschen Nachbar·innen große Beliebtheit genießt und auch das französische Publikum in seinen Bann ziehen wird. All diese eindrucksvollen Stücke werden von unseren engagierten und hochbegabten Teams verwirklicht. Dieses Jahr werden Sie Künstler·innen wie Marie-Eve Signeyrole, Ariane Matiakh, Pierre-Emmanuel Rousseau, Giuliano Carella und Marko Letonja wieder begegnen. Doch auch neue Persönlichkeiten werden bei uns tätig sein: die Regisseur·innen Jean-Philippe Clarac, Olivier Deloeuil und Serena Sinigaglia, der Spezialist für Barockmusik Christopher Moulds und der Komponist Zad Moultaka, für eine Welturaufführung von Format, die der Eckpfeiler des Festivals ARSMONDO sein wird. Ein weiterer, überaus renommierter Neuankömmling wird die Festlichkeiten eröffnen: der katalanische Regisseur Calixto Bieito mit Solveig (Die Erwartung), einer ganz originellen Version des Peer Gynt von Ibsen und Grieg.

Auch choreografisch wird es 2020/2021 Kontinuitäten geben. Der Leiter unseres Balletts, Bruno Bouché, führt seine Erkundung eines vielgestaltigen und eindrucksvollen, immer in Verbindung mit der zeitgenössischen Welt stehenden Tanzes weiter. Neben einer neuen Ausgabe der Reihe Geister Europas wird mit den aktuellen Betrachtungen junger Choreograf·innen unseres Ensembles ein gemischter Abend Mozart gewidmet sein. Auch zwei große Erfolge vergangener Spielzeiten stehen wieder auf dem Programm: das fabelhafte Ballett Chaplin und die schwindelerregende Maria de Buenos Aires. Mit Der Himmel über Berlin zeichnet Bruno Bouché ein bemerkenswertes Stück, zu dem er sich durch Wim Wenders berühmten Film Der Himmel über Berlin inspirieren ließ, der wohl für eine Welt des Tanzes und der Schwerelosigkeit geträumt wurde. Einer Antwort auf die tragischen Gefühlsausbrüche des Opernspielplans gleich zeigt er uns, wie die Asymmetrie aufgelöst werden kann, wenn ein Engel aus Liebe zu einer Sterblichen Mensch wird.

Wie wir es uns seit einigen Jahren zur Gewohnheit gemacht haben, wollen wir auch dieses Jahr unser junges Publikum verwöhnen: zwei erstklassige Märchenopern (zwei Fassungen von Hänsel und Gretel für die ganze Familie; ein rossinisches Aschenputtel im Taschenformat) und das mozart'sche Ballettstück bereichern das Programm der Jungen Oper mit seinen traditionellen „Sitzkissenkonzerten“ und zahlreichen Veranstaltungen. Auch die jungen Künstler·innen des Opernstudios treten bei vielen Gelegenheiten wieder auf. Die „Mittagsmusik“ verwandelt sich in eine „Opernstunde“ und unsere traditionelle Reihe der Liederabende, zahlreiche Konzerte und Begegnungen erwarten Sie ebenfalls.

Und schließlich verspricht das Programm von ARSMONDO uns dieses Jahr wieder spannende Exkursionen in ein Land der pluralen Kulturen: den Libanon. Für dieses interdisziplinäre Festival, das Eva Kleinitz 2018 ins Leben rief und der OnR als wunderbares Erbe hinterlässt, könnten wir uns kein reicheres Land erträumen. Der Libanon, dessen Geschichte durch ein wahres Mosaik der Religionen, Sprachen und Kulturen geprägt wurde, verkörpert unser multikulturelles Zeitalter und die Kunst der Begegnung, die der Oper eigen ist. Und wenn die Vielfalt im Libanon auch Streit und Spannungen mit sich bringt und der langjährige Bürgerkrieg tiefe Spuren hinterlassen hat, so ist es umso wichtiger, dass wir eine geistige Offenheit bewahren und uns für jede Art des Dialoges einsetzen – zwischen den Künsten wie auch zwischen den Ländern, Kulturen und Religionen.

„Offenheit“ war Eva Kleinitz' künstlerisches Motto. Auch nach ihrem Tod verbleibt diese Offenheit wie eine wertvolle Hinterlassenschaft, die jeder Moment der Spielzeit 2020/2021 betonen soll und derer wir uns in allen zukünftigen Spielzeiten erinnern wollen. Aus dem Wunsch nach Offenheit möchten wir unsere Bände mit den elsässischen Kultureinrichtungen enger ziehen, an erster Stelle mit unseren zwei ständigen Partnern, dem Orchestre philharmonique de Strasbourg und dem Orchestre symphonique de Mulhouse, aber auch mit den Theatern, die zahlreichen unserer Aktivitäten eine Bühne bieten: La Filature und La Sinne in Mulhouse, das Théâtre municipal und die Comédie in Colmar. Auf dieselbe Weise wollen wir unsere Zusammenarbeit mit dem Festival Musica verstärken, wie auch mit allen Partnereinrichtungen des Festivals ARSMONDO.

Mehr denn je sind wir überzeugt vom Sinn und von der Notwendigkeit unserer Berufe. Die Covid-19 Krise zeigt zahlreiche Aspekte unserer Gesellschaft auf, ihre Stärken aber auch ihre Schwächen. Die lebenswichtige Bedeutung sozialer Praktiken für unsere demokratischen Gesellschaften wurde umso sichtbarer. Die darstellenden Künste sind eine solche Praxis, eben weil ein Opernbesuch bedeutet sich nach draußen zu wagen, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, mit anderen in Kontakt zu kommen und gemeinsam einen Moment der Kunst zu erleben.

Im Bewusstsein um die Bedeutung, die unseren Spielstätten zuteil wird, damit Sie alle gemeinsam derartig unvergessliche Augenblicke genießen können, wünschen wir Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, eine Spielzeit 2020/2021 reich an spannenden Entdeckungen, leidenschaftlichem Austausch und wiedergefundenen Emotionen.